Project Description
Farben des Lebens
Der Herbst kommt in Europa an. Die ersten wenigen Blätter beginnen sich zu färben, und der Wind in den Bäumen hat seinen Sitz im Orchester der Klänge eingenommen. Die Erde ist nass, dankbar für den Regen, der jetzt fällt.
Herbst – eine Zeit des Vertrauens.
Sobald wir über die Schwelle gelangt sind und nicht länger zurückschauen – wenn wir die warmen Sommertage und die milden Nächte losgelassen haben, die Berührung der Sonne auf unserer Haut und die Lobgesänge, mit denen die Vögel früh morgens die Welt aufweckten, stimmen wir uns gern ein in jene Lieder des Lebens, die eine andere Jahreszeit ankündigen: Ganz allmählich zieht sich das Leben aus der sichtbaren Welt zurück an andere, unsichtbare Orten.
Wir wissen sehr gut, dass die Lebenskräfte der Bäume sich in die Erde zurückziehen, wo sie im weit gewebten Netz der Wurzeln unter der Erde ausruhen, wo sie warten; und glücklich nehmen wir die Fülle bunter Blätter als ein Geschenk an – wie eine letzte großzügige und liebevolle Geste der Erde.
Und so vertrauen wir. Wir atmen ein, und die Erde atmet ein. Ausruhend und innehaltend.
Innerlich haben wir das tiefe Wissen um die Verwandlung; wir wissen, dass nach der Zeit der Stille im Winter eine Zeit kommt, in der das Leben neu geboren wird, wenn die Lebenskräfte sich wieder aus der Tiefe der Erde erheben und sichtbar werden.
Doch mit einem Mal ist etwas anders. Etwas hat sich dramatisch verändert. Da mischt sich ein Klang von Traurigkeit mit ein, als seien wir nicht mehr sicher, dass das Leben wirklich zurückkommen wird. Als sei da ein Rückzug des Lebens, das nicht nur Teil des ewigen Flusses der Veränderung ist, sondern eine andere Art des Schwindens – eine Verarmung, die überall sichtbar wird und die jenseits aller Naturgesetze ganz klar von Menschen gemacht ist.
Die Verarmung ist eine Tatsache und als solche sehr greifbar. Wir wissen nicht, wie viele Bäume, wie viele große Waldgebiete und Urwälder in ein paar Jahren noch existieren werden, oder ob es noch ein so Ehrfurcht gebietendes Geschöpf wie den Tiger auf dieser Erde geben wird, ob es noch die majestätischen Gletscher geben wird, die so hell das Sonnenlicht reflektieren – nicht nur auf Fotografien, sondern in der wirklichen Natur.
Vor kurzem las ich die Warnung von Wissenschaftlern, dass sogar die Farben des Herbstlaubs verblassen und verschwinden werden, mit dem Titel: „Autumn Leaves: How long will the brightest colors be with us?“ (http://www.nsf.gov/discoveries/)
Wie alles in der Schöpfung hat die Färbung des Herbstlaub einen Sinn, einen Sinn auf verschiedenen Ebenen. Zum einen, uns das Geschenk der Schönheit zu bringen, und zum anderen – praktisch wie das Leben ist -, die Blätter vor Schädlingen zu schützen.
Wegen des Klimawandels, der Umnutzung von Land und wegen induzierter Schädlinge verlieren die Bäume ihre Fähigkeit, die Blätter zu färben, wie Wissenschaftler jetzt entdecken.
Ich erinnere mich, wie wir in meiner Kindheit in Haufen von buntem Laub gebadet haben! Das war das besondere Vergnügen herbstlicher Nachmittage, bevor der Abendnebel und die beginnende Dämmerung uns nach Hause schickten. Ich fühle eine tiefe Traurigkeit, wenn ich mir vorstelle, dass möglicherweise unsere Enkel und Urenkel nur aus Geschichten, die ihnen erzählt werden -wenn sie Glück haben – oder von digitalen Bildern auf ihrem elektronischen Spielzeug erfahren, dass es einmal Farben in der Natur gegeben hat.
Doch da ist noch etwas anderes, hinter der Traurigkeit. Da ist ein Klang, ein leiser Klang, den man hören kann. Ich höre, dass das Leben uns ruft, uns verzweifelt und in Not ruft.
Ja, es gibt klare und deutliche Tatsachen. Aber es gibt auch eine tiefe symbolische Bedeutung. Verstehen wir die Symbolik? Das Leben spricht zu uns. Die Erde spricht zu uns. Verblassende Farben sprechen für sich selbst. Was ist mit dem Leben passiert, wenn die Farben weg sind?
Und was ist mit dem Tiger, der ein altes Symbol weiblicher Kraft ist? Wenn die Tiger auf unserem Planeten aussterben, erzählt uns die Erde symbolisch etwas über die Anwesenheit weiblicher Kraft.
Weibliche Kraft ist die Kraft, Leben zu geben, Leben zu nähren und dem Leben zu dienen. Und weibliche Kraft liegt in Bezogenheit und Verbundensein.
Weibliches Bewusstsein ist Teil unseres menschlichen Bewusstseins, das die Weisheit und die Wege des Weiblichen hält. Obwohl unterdrückt und verleugnet, lebt es in uns allen – in Frauen und Männern. Uns dem weiblichen Bewusstsein wieder zu öffnen, wird uns den Raum geben, uns wieder mit dem Leben zu verbinden, eine wirkliche Beziehung zum Leben zu haben.
Und besonders als Frauen haben wir die Fähigkeit, am Brunnen zu sitzen, an der Quelle des Lebens. Wir haben eine tiefe Verbindung zum Heiligen in der Schöpfung. Wir wissen, wie das Licht Form annimmt und dann in der physischen Welt bleibt als ein Funke des Lichts, das zum Ganzen der Schöpfung gehört. Wir wissen es vom Schwangersein, vom Gebären und auch daher, dass wir einfach dieses Potenzial in uns haben, ohne es auf die Weise zu leben, dass wir Kinder bekommen. Wir sind die Hüterinnen der Quelle des Lebens.
Wir wissen nicht, was geschehen wird. Wir wissen nicht, wie das Leben in ein paar Jahren sein wird. Und wir können die Entscheidungen, die die Menschheit getroffen hat, nicht rückgängig machen und können auch nicht verhindern, dass die Konsequenzen daraus getragen werden. Aber wir können die innere Verbindung zum Licht in der Welt halten. Sogar wenn die Farben verblassen, müssen wir neben dem Brunnen sitzen, tief im Innern der Erde, und dort das Licht schützen – da, wo niemand sieht, dass es existiert.
Es ist nötig, dass wir das Licht des weiblichen Bewusstseins in uns lebendig halten. Es ist in unseren Zellen, in unserem Blut, tief in unserem Körper. Es lebt in unseren Beziehungen. Wir müssen die Erinnerung an das innere Licht, das alles Leben durchdringt, halten, auch wenn Dunkelheit das kollektive Bewusstsein und die Ödnisse unseres schönen Planeten übernimmt.
Und wir müssen es für zukünftige Generationen halten. Wir können es unseren Kindern und Enkeln weitergeben, einfach durch das Spiegeln dessen, was wir sind. Indem wir die sind, die wir wirklich sind, und durch das bewusste Erinnern der Heiligkeit in der Schöpfung und in uns. Durch das Atmen mit dieser Erinnerung, während wir unseren Kindern und Enkeln, unseren Freunden und der Familie, den Menschen, mit denen wir arbeiten, unsere Liebe geben. Und wir können mit der Erinnerung an das Licht atmen, wenn wir in der Natur spazieren gehen, unter den Bäumen laufen. Dieses Licht ist eine Substanz von Gemeinschaft mit der Welt. Das Leben braucht es, dass wir uns darauf beziehen, aus der Tiefe unseres Herzens, also von da, wo das Licht ist, wo es immer ist.
Von Angela Fischer, Oktober 2012