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Frühlingsknospen und Viruskrise

Jeden Morgen erwachen wir zur Zeit in einen neuen Frühlingstag. Erspähen neue Knospen in den Zweigen, hören täglich mehr Vögel singen, entdecken mehr und mehr Frühlingsblumen, die ihre Blüten öffnen. Und jeden Morgen erwachen wir mit neuen Nachrichten über die gegenwärtige Pandemie in der Welt. Das Ansteigen der Infektionsraten, der Todeszahlen. Noch mehr Länder, die ihre Grenzen schließen, noch mehr Einschränkungen unseres täglichen Lebens, um die Infektionsrate möglichst niedrig zu halten.

Wie antworten wir darauf?
Was ist unsere Antwort auf den Vogelgesang, die Geschenke der Erde, die Schönheit des Lebens? Und wie antworten wir auf die Nachrichten über die pandemische Krise? Gibt es etwas, das beides verbindet? Und wie beeinflusst diese Krise unsere Haltung und unsere spirituelle Praxis, wo sie doch mit Sicherheit auch unser Leben beeinflusst?

Kürzlich wurde mir klar, dass ich während der vergangenen Wochen fast täglich meine persönliche Einschätzung geändert hatte, und ich musste erkennen, dass es einfach einen Prozess gibt, dass es einen Prozess geben muss für uns alle. Etwas beschämt über meine verschiedenen Reaktionen – eher Reaktionen als bedachte Antworten, so beispielsweise die Gegenreaktion zu kollektiver Panik – tauchte gleichzeitig eine gewisse, viel stetigere Haltung aus der langsam wachsenden Bewusstheit auf: Zuhören. Tiefer zuhören. Lauschen.

Was sind die „Zeichen am Horizont“? Worum werden wir gebeten, und worum werde ich individuell gebeten? Gibt es eine tiefere Bedeutung, tiefer als Furcht und Ängstlichkeit und die Haltung eines „Krieges gegen den Virus“, all das, was wir zur Zeit in der Welt hören und wahrnehmen? Ich versuchte, zu etwas Tieferem hinzulauschen, zu einem inneren Licht – das ja immer da ist, ganz gleich ob wir es wahrnehmen oder nicht. Ich bin natürlich nicht die Einzige, andere lauschen auch. Und wir finden heraus, dass es eine Chance gibt; die Situation, die wir eine Krise nennen, bietet Möglichkeiten für uns.

Einheit und gegenseitige Verbundenheit

Wir wissen, dass als die Astronauten die Erde aus dem Weltraum sahen, dies eine grundlegende Änderung im Bewusstsein bedeutete. Es gibt eine Erde, einen Planeten, unglaublich kostbar. Und wir sind alle untereinander verbunden auf dieser wunderschönen blauen Murmel. Ein Schicksal, eine Seele.

Doch Jahrzehnte später sehen wir uns als Menschheit noch viel tiefer gefangen in einer Gesinnung der Trennung und Beherrschung, was die Erde, alle Arten und und uns gegenseitig betrifft.
Wir hätten im Traum nicht daran gedacht, dass es ausgerechnet ein ansteckender Virus ist, der zum Raumschiff für uns alle wird. Ein Raumschiff, aus dem heraus wir den Planeten als einen einzigen zusammenhängenden Organismus betrachten können. Ein Virus, der uns lehrt, dass wir alle untereinander verbunden sind, auf eine Weise, die wir uns bisher nicht klar gemacht und die wir vergessen haben. Verbunden über den gesamten Planeten. Nicht als Konsumenten oder als globale Konzerne, sondern als verletzliche Menschen auf einer verletzlichen Erde.

Es gibt zwei Arten, darauf zu antworten: Wir haben die Möglichkeit zu entscheiden, ob wir mit Liebe und Mitgefühl oder mit der Begierde des Ego und instinktiven Trieben, das heißt mit Trennung und Teilung, darauf ansprechen. Das Virus bringt Krankheit und sogar Tod, und sicherlich viel Leiden. Wenn wir zulassen, dass, statt Angst und Verzweiflung, der Schmerz uns erreicht, fühlen wir dies in unserem Herzen. Und dann sind wir gefragt, mit Mitgefühl und Liebe zu antworten.

Diese Art der Antwort – mit Liebe und Fürsorge – verlangt von uns, zu bezeugen, was geschieht, es bewusst wahrzunehmen und uns dem zu stellen, es nicht zu ignorieren. Wir werden gebeten, erwachsen zu werden, was bedeutet, fähig zu sein, Leiden und Dunkelheit zu bezeugen, ohne in die kollektive Verzweiflung und Angst zu fallen.

Die innere Welt. Intuition und innere Beziehung

Der physische Rückzug und die Isolation, die aus medizinischer Sicht von uns verlangt werden und notwendig sind, bedeuten nicht, dass wir wirklich getrennt sind.
Eine Ursache des gegenwärtigen Zustands unserer Welt ist, dass wir uns auf eine Weise auf die materielle Welt bezogen haben, dass wir die immaterielle, die innere Welt vergessen haben, und damit auch, wie beides, Materie und Geist, zusammengehören. In anderen Worten: Wir als Menschheit haben das Heilige innerhalb des Lebens vergessen, in der Schöpfung, in unseren Körpern, im Körper der Erde. Das, was man nicht verkaufen oder kaufen kann, was man nicht konsumieren kann. Das Licht, die Seele.

Materialismus und Konsumverhalten haben den Sinn für die Seele und die Seele der Welt, ihr Sehnen danach, genährt zu werden, verschlungen und erstickt. Es ist nicht mehr Teil des menschlichen Bewusstseins, dass wir die Kraft und die Fähigkeit haben, uns auf die innere, unsichtbare Welt und auf uns gegenseitig, jenseits der physischen Ebene und der physischen Verbindung, zu beziehen.

Als Mystiker wissen wir und haben Erfahrungen davon, wie wir „uns in der Nacht begegnen“ können; was bedeutet, nicht in unserem physischen Körper. Wir sind weder durch Raum noch durch Zeit getrennt. Dieses innere Wissen, es zu erinnern und tatsächlich zu leben, kann in diesen Zeiten der Quarantäne wiedererweckt und bestärkt werden.

Wenn äußere Grenzen geschlossen werden, können wir beginnen, unsere inneren Grenzen zu öffnen. Auch die Grenzen, die wir zwischen der inneren und der äußeren Welt errichtet haben.
Wir können uns wieder dem weiblichen Wissen in uns allen widmen, das uns zeigt, wie wir kommunizieren, wie wir in Beziehung zueinander und zu den inneren Welten sein können.
Ja, wir haben Internet (und hoffen, dass es so bleibt), und haben glücklicherweise so auch die Möglichkeiten, nicht-physisch zu kommunizieren. Folglich ist es auch leicht zu glauben, dass wir keinen Anlass haben, Intuition und unsere Beziehung zu inneren Welten zu aktivieren. Jedoch nährt dies allein auf lange Sicht nicht unsere Seelen, weil es nicht den Sinn, das Licht, ersetzen kann, das in einer persönlichen Berührung oder einem Lächeln ausgetauscht wird. Natürlich „ersetzt“ auch eine innere Verbindung keine physische Berührung, doch genau wie eine liebevolle physische Berührung trägt sie ein Licht, schenkt Sinn und nährt die Seele.

Für die Erde, mit der Erde

Viele von uns haben die Satellitenbilder gesehen, die „Vor und Nachher“-Bilder: Klarer Himmel über China nach Wochen des Umgangs mit der Corona-Krise, inzwischen auch über Norditalien.
Wir haben als Folge unseres Lebensstils, unseres Konsumwahns und Materialismus, die Erde mit unseren CO2 Emissionen erstickt. Das wachsende Bewusstsein über die bestehende „Klimakrise“ – was eine Untertreibung ist, da es mehr als eine Krise ist – führte nicht zu einer Akzeptanz der Notwendigkeit, unser Leben fundamental zu ändern. Es führte nicht dazu, dass wir bereit sind, von unserem Konsumverhalten zurückzutreten, von der Vorstellung einer ewig wachsenden Wirtschaft, der sogenannten „Freiheit“, in ein Flugzeug zu steigen, wann immer wir Lust dazu haben, und überhaupt einfacher zu leben. Grüne Wirtschaft, ja, grüne Technologie, ja, aber bitte keine Änderung unseres Lebensstils, kein Verzicht. Keine Politiker, auch die noch so ökologisch orientierten, wagen darüber zu sprechen, denn es ist völlig unpopulär.
Und plötzlich – Menschen sind dazu bereit, auf diesen Lebensstil zu verzichten. Es ist möglich!

Auch wenn der Hauptgrund unserer Bereitschaft, von oberflächlichen Vergnügungen zurückzutreten, die uns ablenken, und Ferien zu unterlassen, für die wir über den ganzen Planeten fliegen, wenn der Grund unserer Bereitschaft die Furcht vor Ansteckung und Krankheit sein sollte, so sehen wir doch zum ersten Mal, dass es möglich ist.
Die Chance ist: Wenn wir fähig sind, diese Furcht in ein tieferes Gefühl der Fürsorge und Liebe, für die Erde und für uns untereinander, umzuwandeln, könnten wir imstande sein, eine andere Lebensweise anzunehmen.

Wir haben jetzt die Chance, wieder den Vögeln zuzuhören, dankbar dafür zu sein, was uns die Erde schenkt. Es gibt jetzt mehr Raum in unserem Leben, dies zu tun, da der übliche Lärm schwindet. Und wenn mehr Menschen zu solchen Erfahrungen zurückkehren, können sich wieder Pfade eröffnen, auf denen wir dem Licht einer tieferen Sinnhaftigkeit begegnen, auf denen wir uns auf die Seele beziehen können. Wir können wieder der Erde selbst zuhören.

Wenn wir in diesem Moment nicht die Erde mit einem dichten Schleier der kollektiven Furcht und Verzweiflung und des weiter wachsenden Egoismus (Nationalismus) bedecken, können wir fähig werden, auf ihre Stimme zu lauschen – der Stimme der Erde, die zur Zeit von ein wenig mehr Atemluft getragen wird. Es ist nur ein sehr kleiner Spalt in der Zeit, eine kurze Gelegenheit, eine Tür, die für einen kleinen Moment offen ist.

Abgeschiedenheit als ein weiter Raum für Licht

Jahrhundertelang war Abgeschiedenheit oder Alleinsein den Mönchen und Einsiedlern vorbehalten, zur Zeit vielleicht noch einigen wenigen Menschen in spirituellen Zusammenhängen. Alleinsein hat keinen Platz im modernen Leben, abgesehen von ihrer Schattenschwester, der Einsamkeit. Aber Alleinsein ist etwas anderes als Einsamkeit. In einer lauten und viel zu geschäftigen Welt haben wir verlernt, in Abgeschiedenheit zu sein, allein zu sein. Wir haben vielmehr große Angst davor und neigen dazu, davor zu flüchten. Jetzt aber sind unzählige Menschen auf dem ganzen Planeten gezwungen, sich in ihre Wohnungen zurückzuziehen und dort in mehr oder weniger Abgeschiedenheit zu verharren.

Nach dem ersten Schock infolge dieser völlig ungewöhnlichen Erfahrung können wir erkennen, dass Raum entsteht, ein Raum, der sich öffnet. Es gibt Luft zu atmen. Während der äußere Raum sich zusammenzieht, dehnt sich der innere Raum aus und weitet sich.
Das Herz hat eine Chance, gehört zu werden. Der Körper hat eine Chance, gehört zu werden. Uns so ist es auch mit unseren Träumen in der Nacht und unseren Betrachtungen über unser Leben. Und wenn wir Kinder haben, die nun wegen geschlossener Schulen zuhause bleiben müssen, haben auch sie die Chance, dass wir ihnen einmal mehr zuhören als üblicherweise.

Ja, es ist nicht leicht, unsere tägliche Routine zu ändern, und es ist eine große Herausforderung für Familien, insbesondere Alleinerziehende, und für Menschen, die weiterhin im Gesundheitswesen oder für die Daseinsvorsorge arbeiten müssen. Und für viele kleine Selbständige und Kulturschaffende, die ihren Lebensunterhalt aufrechterhalten müssen. Diese Schwierigkeiten können nicht beseitigt werden und sind nach wie vor da. Noch können wir die Sorge um Angehörige, die möglicherweise krank sind, oder den Kummer über den Verlust derer, die sterben, vermeiden. Und doch können wir unser tägliches Leben jetzt von einem anderen inneren Ort aus leben, von jenem weiten Raum, der ein gewisses Licht anbietet, einen Sinn des Lebens. In Abgeschiedenheit haben wir Raum zu beten, zu meditieren, zu singen und zu spielen, unsere Mahlzeiten mit Liebe zu kochen. Für andere zu sorgen.
Wir können den Geschmack einer neuen und zugleich uralten Lebensweise erfahren, die innerlich und äußerlich nachhaltig ist. Wir können atmen, so wie die Erde atmen kann.
Von diesem Raum aus, der uns im Moment gegeben wird, aus Liebe und Fürsorge, kann Heilung geboren werden. Es gibt immer eine individuelle Wahlmöglichkeit.

Angela Fischer