Project Description
Mutter-Tag
Von Angela Fischer
Liebe ist die größte Kraft im Universum.
Am Sonntag ist Muttertag. Wir ehren die Mütter, wie jedes Jahr, und wollen ihnen zeigen, dass wir sie lieben. Im weltweiten Internet mehren sich in diesen Tagen die affirmativen Posts, die lieblichen und lichten Äußerungen, Fotos und digitalen Kunstwerke zum Begriff „Mutter“, die Aufforderungen, dies oder jenes an diesem Tag zu sein oder zu tun – selten ohne Ausrufungszeichen. Immer gibt es Menschen, die zu wissen scheinen, was zu tun ist, und ebenso Menschen, die gern gesagt bekommen, was sie zu tun haben. Auch am Muttertag.
Als Kind hat man mir in der Schule gesagt, ich müsse am Muttertag meiner Mutter Blumen schenken und ein Gedicht aufsagen. Ich habe meiner Mutter von Frühling bis Herbst Blumen geschenkt, wann immer ich im Überschwang meiner Über-Wiesen-Hüpfen-Freude an sie dachte und entzückt war von den zahllosen Blüten im Gras, die wir heute nicht mehr in der Wildnis finden, weil wir sie einst für Un-Kraut befanden und ausrotteten. Ich habe meiner Mutter Gedichte geschrieben, seit ich fünf Jahre alt war, weil ich sie innigst liebte. Die Gedichte habe ich ihr auch manchmal vorgelesen oder aufgesagt, meistens aber, auf einen kleinen Zettel gekritzelt, heimlich an ihr Bett gelegt, als Überraschung. Ich wollte, dass sie sie findet, grade dann, wenn sie nicht damit rechnete, wenn sie müde war vom Tag, oder traurig und mutlos – wie ich sie eben auch kannte – und dachte, dann freut sie sich um so mehr.
Dann kamen die Aufforderungen zum Muttertag. Musste ich jetzt meine spontanen Liebesgaben selbst überbieten? Es schien so, und gleichzeitig kam mir alles an diesem Tag gezwungen vor, irgendwie nicht echt, jedenfalls nicht zu mir gehörig – und auch nicht wirklich zu ihr. Denn mein feines Gefühl sagte mir, dass sie ein sehr ambivalentes Verhältnis zu diesem Tag hatte. Wir waren in Deutschland grade mal 10 Jahre von den Nazis befreit, als ich geboren wurde, und bekanntlich hatten die Nazis den Muttertag für ihre Ideologie und im Dienste ihrer Grausamkeit in Besitz genommen und hoch aufgewertet. Mütter als Zuchtorgane – es klebte noch immer der hässliche Geschmack der Mutter-Ideologie an diesem Tag. Ich wusste als kleines Kind noch nicht die Fakten, aber ich spürte es. Meine Eltern waren in jener Zeit noch jung gewesen, doch beide kritisch, schon damals. Der Muttertag war ihnen irgendwie unangenehm, und doch schien sich meine Mutter als eine Frau, deren Tag mit dem Versorgen ihrer vier kleinen Kinder gefüllt war, auch zu freuen. Ich bin der Aufforderung gefolgt, manchmal ein wenig verzweifelt, weil ich nicht wusste, wie ich meine sonst spontanen und deshalb so kreativen Liebesbeweise mit diesen eher gewollten überbieten konnte.
Dieser Tag hatte immer etwas Merkwürdiges, Fremdes; eine Art Schatten schien sich darüber zu legen. Es war ein bestimmter Tag, meine Mutter jedoch war an jedem Tag im Jahr Mutter. Eine Mutter, die ich liebte, über die ich mich ärgerte, in deren Arme ich mich flüchtete, der ich mich widersetzte, eine Mutter, die mir die Liebe zur Natur und die tiefe Ehrfurcht vor den Mysterien von Schwangerschaft und Geburt nahebrachte.
Wie der Kreislauf des Lebens es fügte, geschah es, dass einige Jahrzehnte später meine eigenen Kinder Gedichte in der Schule lernten, um sie mir zum Muttertag aufzusagen. Auch meine Kinder haben mir, an nahezu allen Tagen des Jahres, wundervolle Büchlein und Gedichte geschrieben und illustriert, unzählige Bilder gemalt, und Blumen gepflückt von Februar bis November. Das Verhältnis zum Muttertag scheint sich vererbt zu haben. Sie haben sich bemüht, mir zu „gratulieren“, aber niemand in unserer Familie konnte diesen Tag so richtig ernst nehmen, und es schien mir immer so, als stünden meine sonst so spontanen Kinder unter einem merkwürdigen Druck, eine Mutter zu ehren, die nicht wirklich ihre war. Es hatte etwas „Gefrorenes“, Steifes, Unverbundenes. Kleine Kinder haben eine natürliche Liebe, die sie immerzu vermitteln; sie müssen nicht dazu aufgefordert werden. Wer soll eigentlich wirklich ehren an diesem Tag, und wem soll er dienen, abgesehen von den Gewinnen der Blumen- , Grußkarten- und Geschenkeindustrie?
Jeder festgesetzte „Zu-Ehren-Feiertag“ im Jahr, sei es der International Earth Day, der International Children’s Day, oder eben der Muttertag, ist nicht nur eine Entschuldigung oder eine Ausrede, sondern das untrügliche Zeichen dafür, dass wir eine tiefe Wahrheit über das oder diejenigen, die wir an diesem Tag ehren, komplett aus unserem Leben, aus unserem Alltag ausgeklammert haben. Wir brauchen einen eigenen Tag, um daran zu erinnern, weil wir die tiefere Bedeutung nicht nur nicht mehr wissen, sondern weil wir sie nicht leben.
Wir sind nicht alle physisch Mütter, doch wir alle haben eine göttliche Mutter, eine Mutter Erde und eine menschliche, leibliche Mutter. Wir haben in gewisser Weise drei Mütter, und gleichzeitig sind sie eins. Die Beziehung zur einen ist untrennbar verbunden mit der Beziehung zu den anderen. Ebenso sind Mütter selbst in besonderer Weise mit dem Geist der „Mutter in allem“ verbunden. Eine Frau, die ein Kind gebiert, ist verbunden mit ihrer göttlichen Mutter, ob sie es weiß oder nicht, und sie ist verbunden mit Mutter Erde, die sie und ihr Kind nährt.
Der Respekt, den wir der weiblichen Seite Gottes so lange verweigert haben, den verweigern wir auch unserer Mutter Erde, und den verweigern wir den Frauen, die Mütter sind. Wir verweigern ihn auch Männern, die mütterliche Eigenschaften leben. Und wenn wir uns an einem solchen Tag an die Größe der Mutterschaft erinnern, nicht als Idealisierung, sondern als eine tiefe in der Seele empfundene Wahrheit, die eben auch unsere Erde als Mutter und unsere göttliche Mutter betrifft, so ist es auch wichtig uns daran zu erinnern, wo wir sie noch immer mit Füßen treten. Es ist wichtig, die Schattenseite mit hineinzunehmen, statt allein zu versuchen, einen künstlichen oder sentimalen Glorienschein zu werfen.
Erst wenn wir wieder in der Tiefe die weibliche Kraft der Schöpfung wahrnehmen und gleichzeitig erkennen, wo wir sie entheiligen, und den Schmerz und die Auswirkungen dieser Entheiligung bezeugen, dann ist es wirklich möglich, Liebe zu empfinden: Liebe auch für unsere Mutter Erde, die unsäglich unter uns leidet, und Liebe für unsere göttliche Mutter, die uns liebt, transformiert und den göttlichen Funken spendet für diese Schöpfung, die beides umarmt, die Form und das Formlose.
Und dann geschieht es vielleicht, dass wir uns auch an die vielen Mütter erinnern, die unter schwersten Bedingungen ihre Kinder großziehen, in Kriegszonen, Flüchtlingscamps und Hungergebieten. An Mütter, die mit ihren Kindern obdachlos sind oder aus Armut sich von ihnen trennen müssen. Wir erinnern uns an unsere Mutter Erde, der wir als Menschheit so große Schmerzen zufügen und die unendlich leidet; von der wir so selbstverständlich nehmen, was immer sie in ihrer Großzügigkeit und Schönheit hergibt, und der wir nichts mehr zurückgeben. Und wir mögen uns an unsere göttliche Mutter erinnern, die wir als weibliche Seite Gottes so radikal aus unserem westlichen Bewusstsein und unseren Herzen verdrängt haben.
Wir müssen keine Altäre bauen, keine Geschenke kaufen. Wir könnten uns einfach in uns erinnern, im Herzen, jede/r bei sich, auf die eigene Art und Weise, ohne Anweisung und Aufforderung, ohne Ausrufezeichen. Wenn wir mögen, können wir ein Gebet für sie aus unserem Herzen senden, für die Erde und für die Mütter, die es nicht leicht haben. Nicht nur an diesem Tag, sondern an jedem anderen Tag, eingebettet in unseren Alltag. Wir könnten einfach jeweils für einen Moment in unser Herz gehen und die Liebe spüren. Liebe ist die größte Kraft im Universum.